Der Pullover

Eine Liebesgeschichte

Liebe Freunde dieser Geschichte,

Sie endet im gedruckten Buch sehr offen, man könnte denken: mit einem HAPPY END. Aber das ist nur die halbe Wahrheit! In Wahrheit geht diese Geschichte weiter … Wer wissen möchte, wie, der kann es hier lesen. Viel Spaß!

Er klopfte. 

Niemand öffnete. 

Er drückte auf die Klingel und horchte auf Schritte, die sich jetzt der Tür nähern müssten. Doch Schritte waren nicht zu hören. 

War sie nicht zu Hause? 

Er verbrachte den Tag daheim und horchte auf Geräusche im Treppenhaus, doch vergeblich. Spät Nachts ging er zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Johanna kam nicht nach Hause. 

Vielleicht war sie verreist oder bereits ausgezogen, ohne dass er dies bemerkt hatte? Er verließ das Bett und betrat das Treppenhaus: Das Namensschild an ihrer Tür war nicht mehr da! Er lief die Treppen hinunter zu den Briefkästen, aber auch dort war Johannas Name nicht zu finden. Bis zum Morgen blieb er auf dem untersten Treppenabsatz hocken, wie ein Hund, der auf die Rückkehr seines Frauchens wartet. Der Zeitungszusteller kam, aber da Johanna anscheinend  kein Abonnement hatte, konnte er keinerlei Auskunft geben. Kurz nach sieben Uhr krachte irgendwo oben im Haus eine Tür ins Schloss und jemand sprang mit schweren Schuhen die Holztreppen hinunter. Der Junge, der im Dachgeschoss wohnte, lief an ihm wortlos vorbei, vermutlich auf dem Weg zur Schule. 

Sollte er hoch gehen und sich frisch machen? Oder im Büro anrufen und sich krank melden? Kaffee kochen?

In seiner Wohnung läutete das Telefon, es war deutlich durch die offen gelassene Tür zu hören. Würde er hoch eilen und den Hörer abheben, wäre wahrscheinlich nur seine Mutter dran. (Und womöglich würde sie fragen, ob er den Pullover trüge, den sie ihm gestrickt hatte… Und alles andere würde sich als eine schöne Tagträumerei erweisen … )

Er blieb, wo er war. 

Warum hatte er nicht bemerkt, dass Johanna ihn mochte? Warum dachte er, sie sei eine gewöhnliche Nachbarin, mit der man höchstens einen Gruß zu tauschen pflegte? Warum hat er das Briefchen nicht sofort entdeckt?! 

Er hat sie nie wieder gesehen. In einer Welt, in der alle miteinander vernetzt zu sein scheinen, käme man nicht auf den Gedanken, jemanden nicht wieder finden zu können, aber so war es: Johanna Müller war aus seiner Welt verschwunden. 

Vielleicht hat sie einem anderen Mann (einen neuen Nachbarn in einem neuen Haus) einen zauberhaften Pullover gestrickt und vielleicht war dieser Nachbar aufmerksamer gewesen und hatte Johanna sofort geheiratet? Vielleicht hatte sie seinen Namen angenommen und war aus diesem Grund nicht mehr auffindbar?

Er sprach mit niemanden darüber. 

Den Pullover trug er, sooft das Wetter dies zuließ. Und obwohl er ihn mit größter Vorsicht behandelte, wurde er mit der Zeit fadenscheinig und als Kleidungsstück irgendwann unbrauchbar. Er schien sich aufzulösen und stellenweise davon zu fliegen; einmal sah er, wie eine Blaumeise etwas Wollenes, das sich gerade von seinem Ärmel löste und langsam zu Boden fiel, aufschnappte und mit der Beute in das Geäst einer alten Kastanie flog. Vermutlich baute sie dort ein Nest. Diese Beobachtung bereitete ihm ein Wohlgefühl.

All die Träume, die mit dieser Wolle verwebt schienen … Als hätte er vor langer Zeit die Liebe seines Lebens verloren, so fühlte es sich an. War er wirklich so einer, der nichts merkte? 

Manchmal, wenn die Kollegen ihren Arbeitstag beendet hatten und zu ihren Familien (oder wenigstens Haustieren) geeilt waren und er allein im Büro blieb, an solchen Abenden starte er sein Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe an und stellte sich vor, sein Leben zu ändern: den Job und die Wohnung zu kündigen … die Stadt zu verlassen … Schäfer werden!

Eine aufregende, glücklich machende Vorstellung war das. 

Er bildete sich ein, die Wiesen, die Tiere, ihr Fell zu riechen. Er gab den Tieren viele Namen; doch die meisten hießen Johanna. 

ENDE?

 24 Euro / 48 S., 14×20 cm / Kunstanstifter  2018

Schöne Rezension von Frank Becker / Musenblätter:

Rezension Pullover in Musenblätter